Dec 30 2019 38 mins   45
In den gegenwärtigen Debatten um die Digitalisierung werden systemische und strukturelle Auswirkungen der Digitalisierung auf Entwicklungs- und Schwellenländer und damit verbundene potentielle Risiken und Herausforderungen bislang kaum betrachtet und diskutiert. Ein schwerwiegendes Versäumnis, hatte doch bereits die Weltbank, einer der größten Förderer von IKT in den Ländern des Globalen Südens, in ihrem Weltentwicklungsbericht ‚Digital Dividende‘ (2016) selbstkritische eingeräumt, der digitale Wandel bleibe nicht nur hintern, sondern verschärfe die soziale Ungleichheit. Der Vortrag setzt sich mit der Frage auseinander, inwiefern die Digitalisierung zur Überwindung von Armut und sozialer Ungleichheit in den Ländern des Südens beitragen können. Erweitern sie die Chancen auf gesellschaftliche und ökonomische Teilhabe von benachteiligten Menschen oder verengen sie diese? Schwerpunkt der Analyse bildet die Auseinandersetzung mit dem digitalen Handel. Fast unbemerkt hat sich in der Handelspolitik eine neue Dynamik entwickelt. Führende Tech-Konzerne, allen voran die aus dem Silicon Valley, instrumentalisieren zunehmend das Handelsrecht für ihre Interessen. Dabei geht es längst nicht mehr nur um die Reduzierung von Zöllen auf digitale Produkte wie Software oder einheitliche Standards für Telekommunikationsdienste. Patente auf Künstliche Intelligenz sowie die (Nicht)Regulierung von Datenflüssen sind inzwischen auch Bestandteil handelsrechtlicher Regelungen und Gegenstand kontroverser Debatten in der Welthandelsorganisation WTO. Für die Länder des Globalen Südens – aber nicht nur für sie – steht dabei viel auf dem Spiel, einschließlich der Gefahr eines neuen, digitalen Kolonialismus. Im Vortrag zeigt zudem erste Ansätze zum Aufbau einer fairen und menschenwürdigen Digitalisierung auf. Vom E-Commerce zum digitalen Handel Vor 25 Jahren kaufte ein Internetnutzer aus Philadelphia, mit seiner Kreditkarte am Computer eine Audio-CD des Musikers Sting. Der elektronische Handel war geboren. Ein Jahr später ging Amazon mit seinem ersten Buch an den Start. Während in der Frühphase des E-Commerce vor allem materielle Güterverkauft wurde, kamen in der Folgezeit, aufgrund technischer Fortschritte, neue Produkte und Vermittlungswege hinzu. Eine Welt ohne digitale Dienstleistungen (wie der Fahrkartenkontrolle per App) und digital übermittelt Produkte (wie z. B. Video-Streaming) ist heutzutage nicht mehr vorstellbar. Mit der Verlagerung der gehandelten Güter von materiellen Produkten zu immateriellen wandelte sich auch die Begrifflichkeit. So verdrängte der Terminus des „digitalen Handels“ zunehmend den des „elektronischen Handels“. Asymmetrische Einbindung des globalen Südens Mit dem digitalen Handel und der Digitalwirtschaft werden häufig große Hoffnungen für den Globalen Süden verknüpft. Die Schaffung neuer, digitaler Märkte sei mit hohen Wachstumsraten verbunden, einhergehend mit einer Steigerung des Wohlstandes, behaupten nicht nur Tech-Konzerne, sondern auch Akteure aus der Entwicklungszusammenarbeit. Ein Bericht der Vereinten Nationen kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Demnach verteilt sich der Handel mit digitalen, immateriellen Gütern noch ungleicher, als beim traditionellen, analogen Handel. Auch beim Handel mit IT-Produkten, wie Laptops oder GPS-Geräten, geraten die Entwicklungsländer ins Hintertreffen. Die ökonomischen Folgen für die Länder des Südens sind schwerwiegend: Viele Entwicklungsländer leiden unter (1) Handelsbilanzdefiziten, (2) geringeren Staatseinnahmen und (3) erschwerten Bedingungen zum Aufbau einer eigenen, lokalen Digitalwirtschaft. Daten – Der Zankapfel in neuen Handelsabkommen Ein Anfang 2019 in Kraft getretenes Mega-regionales Handelsabkommen, dem elf Staaten angehören, darunter wichtige OECD-Länder (Japan, Kanada, Neuseeland, Australien, Chile, Mexiko), geht weit über bisherige Verträge zum digitalen Handel hinaus. Gleiches gilt für das [...]