Für Herder war die Sprache das herausragende menschliche Kulturerzeugnis. In der Sprache verdichtet sich die Weltwahrnehmung des Menschen – eine Einsicht, die bis heute revolutionäre Konsequenzen hat…
Die deutsch-türkische Autorin Kübra Gümüşay berichtet in ihrem Buch «Sprache und Sein» von einer nächtlichen Begebenheit am Meer: Ihre Großmutter macht sie auf das wunderschöne «Yakamos» aufmerksam – aber sie kann im Dunkel der Nacht nichts erkennen. Erst als ihr die Mutter erklärt, dass dieser türkische Ausdruck die Wiederspiegelung des Mondlichtes im Meer bezeichnet, erblickt sie das entsprechende Phänomen.
Und ein folgenschwereres Beispiel: Die Etablierung des Begriffs der «sexuellen Belästigung» war offenbar entscheidend, um weitreichende Erfahrungen von Frauen auf einen Begriff zu bringen. Erst als es ein Wort dafür gab, wurde das Unbehagen, der Ekel, die Angst und viele andere Gefühle aufgeschlossen, welche Frauen in übergriffigen Begegnungen mit Männern empfanden, aber vorher nicht angemessen verbalisieren konnten.
In ihrem Buch geht Kübra Gümüşay dieser eigenartigen Wechselbeziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit nach – und verarbeitet dabei Einsichten, die sich bis auf den Kulturphilosophen und Philologen Johann Gottfried Herder zurückverfolgen lassen: Dieser sieht nämlich bereits, dass sich in der Sprache die Lebenswelt der Sprechenden abbildet, bis hinein in historische, biografische, soziale, geografische, klimatische und viele andere Faktoren. Und mehr als das: Sprache – in Vokabular wie auch Grammatik – lenkt umgekehrt auch die Wirklichkeitsauffassung der Sprechenden, legt ihnen eine bestimmte Wahrnehmung der Welt nahe.
Diese Verbindung von Sprache, Weltwahrnehmung und Wirklichkeit beschäftigt auch andere Philosophen seiner Gegenwart und darauffolgender Zeiten: von Hamann (zu dessen Kritik an Kant bereits eine mindmaps-Folge vorliegt) über Humboldt bis Nietzsche und darüber hinaus wurde gerade im Namen der Sprachlichkeit unseres Denkens auch Kritik an den rationalistischen Engführungen der Aufklärung laut: zum einen ist die vielgerühmte «objektive Vernunft» nicht anders zu haben als in Gestalt der konkreten, historisch bedingten und darum gerade nicht universellen Sprache – zum anderen ist der Mensch nicht nur ein Wesen der Vernunft, sondern auch des Gefühls, des Willens, der Poesie und Musik und vieler anderer Aspekte des Lebens, die sich nicht auf Verstandesfunktionen reduzieren lassen.
Sprache erschließt Wirklichkeit: Manuel spricht mit Peter über die weitreichenden Konsequenzen dieser Einsichten auch für heutige gesellschaftliche und theologische Diskurse. Was bedeutet die eigene Verhaftung in einer spezifischen Sprachwelt für theologische Ansprüche auf Wahrheit? Und kommt nach dieser Logik den biblischen Sprachen und insbesondere dem Hebräisch (dessen Geist auch das neutestamentliche Griechisch noch atmet) eine einzigartige Bedeutung zu? Zugespitzt: Ist Hebräisch die Sprache Gottes?