Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!
Aus dem Johannesevangelium, aus dem 4. Kapitel:
5 Unterwegs kam [Jesus] nach Sychar, einem Ort in Samarien. In seiner Nähe liegt das Grundstück, das Jakob einst seinem Sohn Josef vererbt hatte. 6 Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von dem langen Weg und setzte sich an den Brunnen. Es war um die sechste Stunde. 7 Da kam eine Samariterin, um Wasser zu schöpfen. Jesus bat sie: »Gib mir etwas zu trinken.« 8 Seine Jünger waren nämlich in den Ort gegangen, um etwas zum Essen zu kaufen. 9 Da sagte die Samariterin zu ihm: »Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?« Denn die Juden vermeiden jeden Umgang mit Samaritern. 10 Jesus antwortete: »Wenn du wüsstest, was für ein Geschenk Gott den Menschen macht und wer dich hier bittet: ›Gib mir etwas zu trinken‹! – dann würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben!« 11 Die Frau erwiderte: »Herr, du hast nichts, um Wasser zu schöpfen, und der Brunnen ist tief. Woher hast du denn dieses lebendige Wasser? 12 Bist du etwa mehr als unser Stammvater Jakob? Er hat uns diesen Brunnen hinterlassen. Er selbst hat daraus getrunken, ebenso seine Söhne und sein Vieh.« 13 Darauf antwortete Jesus: »Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen. 14 Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.« (Johannes 4,5-14)
Ich gehe am Mittag zum Brunnen. Es ist heiß. Schon der leere Krug drückt unangenehm auf meine Schulter. Der raue Stoff meines Obergewands reibt sich an meiner verschwitzten Haut.
Ich gehe allein zum Brunnen. Am Mittag, in der größten Hitze, wenn die anderen längst nicht mehr da sind. Kein vernünftiger Mensch geht raus um diese Zeit. Im Sommer ist es am besten, man ruht sich aus in diesen Stunden, bis man am kühler werdenden Spätnachmittag weiterarbeiten kann.
Ich gehe jetzt. Ich will sie gar nicht sehen. Ich halte sie nicht mehr aus.
Ich kann es nicht mehr ertragen, wie sie mich anstarren. In ihrem Blick liegt alle ihre Verachtung.
Ich kann es nicht mehr ertragen, diese bohrenden Blicke, immer nur ganz kurz, denn dann schauen sie weg. Sie tun, als hätten sie mich gar nicht gesehen. Als wäre ich gar nicht mehr da. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Nicht, nach allem was war. Nach all den Fehlschlägen und Enttäuschungen. Irgendjemand muss ja schuld sein an meiner Misere. Sie wissen es ganz sicher, dass es an mir liegen muss.
Ich kann es nicht mehr ertragen, wie sie tuscheln, wenn ich weggehe. Hinter vorgehaltener Hand tauschen sie Gemeinheiten über mich aus. Sie fühlen sich sicher gut dabei. Gemessen an mir ist jede von ihnen eine Heilige. Und wer sich noch besser fühlen will, der tuschelt etwas lauter. So, dass ich es auch noch hören kann, was gesagt wird. Und das klar ist, wer hier das Sagen hat. Wer hier das moralische Urteil fällen darf.
Ich kann es nicht mehr ertragen. Und deshalb gehe ich allein. Ich habe niemanden, der mit mir geht. Keine fröhliche Unterhaltung, die die Zeit bei der Arbeit schneller vergehen lässt. Niemand, der sich meine Sorgen anhört. Niemand, der mit mir weint. Niemand, der mich wieder aufzurichten versucht mit tröstenden Worten der Hoffnung.
Mir egal. Ich brauche sie nicht. Ich brauche niemanden.
Was sollen sie mir schon geben?
Wasser brauche ich, sonst nichts.
Ich will allein sein.
Allein sein ist auch nicht immer angenehm. Man braucht ja gar keine anderen, um sich schlecht zu fühlen. Das kann ich schon ganz alleine.
Still ist es um mich, mittags am Brunnen. Nur der Wind und das Plätschern des Wassers.
In mir ist es nicht still.
Die Fragen sind unendlich laut.
Die Zweifel geben keine Ruhe.
Die Bilder, die Erinnerungen sind immer da. Gute Zeiten, Hoffnungen, längst vorbei, jäh zerstört. Falsche Entscheidungen, schicksalhafte Wendungen. Gewalt. Leid. Einsamkeit. Tränen.
Am Schlimmsten sind die Schuldzuweisungen. Nicht die von den anderen. Ich bin mir selbst die strengste Richterin.
Ich kann es nicht mehr ertragen, diesen Lärm in mir.
Vor anderen kann ich weglaufen.
Vor mir selbst nicht.
Ich will endlich Ruhe.
Frieden.
Stille.
Ist das zu viel verlangt?
Da sitzt einer. Was will der denn hier?
Kann man nicht einmal mehr allein sein?
Da sitzt einer. Ein Mann. Auch das noch!
Nein, auf Männer bin ich oft genug reingefallen.
Da sitzt einer. Ein Jude. Wie kommt der hier her?
Die gehen doch sonst gar nie durch unser Land, die feinen Herrschaften. Lieber machen sie einen großen Umweg. Halten sich für etwas besseres, weil sie den einen wahren Gott anbeten, in ihrem feinen Tempel in Jerusalem. Dass wir zum gleichen Gott beten, von den gleichen Vätern abstammen, ist ihnen nicht gut genug. Bis zum letzten Krieg hatten wir auch einen Tempel. Gleich hier in der Nähe, auf dem Garizim, dem heiligen Berg, von dem Gottes Segnungen herabgerufen wurden, damals, als Israel mit Mose durch die Wüste zog. Als die Feinde uns den Tempel nahmen, haben sie nur hämisch gelacht. Seither lassen sie keine Gemeinheit aus, um uns zu schaden.
Muss der da jetzt sitzen?
Ich will doch nur Ruhe.
Ruhe und ein bisschen Wasser.
Ist das zu viel verlangt?
Gib mir etwas zu trinken.
Jetzt will er auch noch etwas von mir.
Er!
Von mir!
Alle wollten immer etwas von mir. Immer sollte ich nur geben. Ausgenutzt haben sie mich. Was ich will, was ich brauche, danach fragt keiner. Ausgenutzt und weggeworfen. Leer. Nutzlos. Ausgebrannt. Ausgeraubt. Ein Opfer, aber das will ja keiner wissen. Für sie bin ich ja schuld an allem.
Jetzt will keiner mehr etwas von mir.
Doch: Er.
Gib mir etwas zu trinken.
Wasser will er?
Von mir?
Ich verstehe das nicht.
Von mir?
Wenn du wüsstest, was für ein Geschenk Gott den Menschen macht und wer dich hier bittet: ›Gib mir etwas zu trinken‹! – dann würdest du ihn bitten, und er würde dir lebendiges Wasser geben!
Ach so!
Die Tour kenne ich.
Jetzt soll ich ihn bitten. Jetzt hat er etwas zu geben. Natürlich etwas Besseres. Etwas, das alles gut macht. Alle Probleme wegnimmt. Alle Schmerzen lindert. Alle Verletzungen heilt. Alle Sehnsüchte stillt.
Das tollste Produkt überhaupt und natürlich kennt nur er das Geheimnis!
Als ob ich das nicht schon alles gehört hätte.
Irgendjemand hat immer DIE Lösung.
Irgendjemand macht dir immer noch Hoffnung.
Am Ende sind sie doch alle gleich.
Schaut ihn doch an. Was hat er denn?
Sitzt hier müde am Brunnen, mit nicht einmal einer Schöpfkelle und redet von Wasser.
Sitzt hier nicht einfach nur an irgendeinem Brunnen. Ich will ja nicht angeben, aber den Brunnen hier hat Jakob selbst gebaut, damals, vor Zeiten. Es ist ein guter Brunnen, hier, in einem trockenen Land. Er hat für Jakob gereicht und für seine Söhne. Ganze Viehherden konnten daraus trinken. Nicht nur ein kleines Rinnsal. Und er fließt immer noch. Unser Brunnen ist gut!
Meint der Fremde denn, er hätte etwas besseres?
Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen.
Ja, stell dir vor! Überraschung!
Ist das nicht die ganze menschliche Misere in einem Satz?
Ich trinke und trinke und bekomme immer wieder Durst.
Ich schöpfe und trinke und mache, ich plane und sorge vor, ich bin fleißig und sparsam, ich versuche klug und weise und rücksichtsvoll zu handeln. Ich übernehme Verantwortung. Ich handle nach bestem Wissen und Gewissen. Und am Ende habe ich wieder Durst. Am Ende hilft doch alles nichts.
Ich mühe mich und bekomme keine Anerkennung.
Ich arbeite, untadelig und mit Überstunden, und werde trotzdem entlassen.
Ich achte auf mein Gewicht und auf meine Gesundheit. Ich habe mache Sport. Ich ernähre mich gesund. Ich rauche und trinke nicht. Und am Ende bekomme ich trotzdem einen Herzinfarkt.
Ich liebe und meine Liebe findet keine Erwiderung.
Ich bringe mich ein und finde keine Beachtung.
Ich hoffe und werde enttäuscht.
Am Ende habe ich immer Durst.
Sehnsucht.
Ich will doch nur ein kleines Bisschen... Frieden. Liebe. Dazugehören. Zufrieden sein. Ein kleines bisschen Glück.
Ist das denn zu viel verlangt?
Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.
Heute.
Am Mittag.
In der unbarmherzigen Hitze am Brunnen vor dem Dorf.
Heute, nach all den Jahren, habe ich einen getroffen, der meinen Durst stillt.
Heute hat mich einer gesehen.
Heute hat zum ersten Mal einer gefragt, was ich brauche. Hat gesehen, was mir fehlt.
Heute hatte zum ersten Mal einer die Antwort darauf.
Lebendiges Wasser.
Gottes Zuwendung zu mir. Zu mir! Obwohl ich doch... Lassen wir das! Gott mag mich trotzdem, habe ich heute erfahren.
Heute ist er mir begegnet.
Heute hat er mir sein Leben geschenkt, wo mein Leben nur verzweifelt und leer war.
Heute hat er meinen Durst gestillt.
Heute.
Am Mittag.
In der unbarmherzigen Hitze am Brunnen vor dem Dorf.
Und morgen?
Der Reisende zieht weiter. Aber Gott wird auch morgen noch bei mir sein. Bei mir! Könnt ihr das glauben? Bei mir!
Morgen gehe ich wieder zum Brunnen.
Nicht am Mittag. Viel zu heiß!
Morgen gehe ich gleich in der Frühe. Wenn es kühl ist, laufe ich hin. Mein Schritt wird beschwingt sein.
Morgen am Brunnen bin ich die, die redet. Ich bin die, die etwas zu erzählen hat. Die werden Augen machen!
Gott ist bei mir! Gott mag mich! Gott hat mich gesehen! Meinen Durst hat er gestillt!
Ich habe Hoffnung!
Bei dir ist die Quelle des Lebens.
In deinem Lichte sehe ich das Licht.
Geliebte Gottes in Gäufelden,
Ihr versteht das nicht. Ihr geht ja nicht zum Brunnen. Ihr dreht einfach den Hahn auf, wenn ihr Wasser braucht.
Ihr habt meine Probleme nicht, meine Fragen und meine Zweifel. Ihr hört nicht die schreienden Anklagen meiner selbst in mir und die der anderen.
Ihr müsst nicht allein mit all dem fertig werden.
Ihr habt alles.
Oder nicht?
Was sind denn eure ungestillten Sehnsüchte? Was ist das, was euch einsam an den Brunnen treibt? Was ist das, was euch immer wieder durstig zurücklässt? Womit werdet ihr nicht fertig?
Vielleicht versteht ihr mich doch?
Geliebte Gottes in Gäufelden,
Mir ist da einer begegnet. Ich konnte es selbst nicht glauben, aber er hat mein Leben verändert. Ich habe nicht plötzlich alle Lösungen, aber ich habe ihn! Aus ihm, mit ihm, lebe ich Tag für Tag. Ich bin niemals mehr allein. Ich bleibe nie durstig auf der Strecke. Bei ihm ist die Quelle des Lebens und in seinem Lichte sehe ich das Licht. Jeden Tag.
Kennt ihr ihn schon? Trinkt ihr schon von seinem Wasser? Lebt ihr schon aus ihm?
Geliebte Gottes in Gäufelden,
Vielleicht versteht ihr auch das nicht: Er ist zu mir gekommen. Zu mir!
Für euch baut man Wasserwerke. Ihr habt das beste Trinkwasser, das man sich vorstellen kann.
Für mich gab es das alles nicht. Ich war die einsame, verachtete Samariterfrau am Brunnen.
Ihr habt alle Privilegien. Euch geht es gut.
Dass heute ein weißer Mann aus Deutschland, aus der bürgerlichen Schicht, mit gutem Gehalt und angesehen, für mich die Stimme erhebt, ist eigentlich der Hohn. Wisst ihr denn eigentlich, wie reich beschenkt ihr seid?
Mir ist da einer begegnet, dem waren solche Kategorien egal. Der Clou meiner Geschichte ist doch gerade auch der, dass der zu mir kommt. Er stellt nicht den sowieso gut Versorgten noch einen weiteren Kasten Wasser hin.
Er ist zu mir gekommen. Zur unwahrscheinlichsten Person überhaupt. Er hat das alles gewusst. Gesehen hat er meinen Durst.
Den hat er gestillt.
Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes. (Lukas 13,29)
Ich bin eine von ihnen. Wer hätte das gedacht?
Geliebte Gottes in Gäufelden,
Gibt es Menschen in eurem Umfeld, die in der Hitze des Lebens Durst haben?
Vielleicht gibt es Durstige wie mich ja auch um euch herum. In eurem Land, an euren Orten. Vielleicht habt ihr sie bisher ja gar nicht gesehen. Er sieht sie ganz sicher!
Bei ihm wird niemand ausgegrenzt.
Bei ihm fließt Lebenswasser in Fülle. Es ist genug für alle da.
Werdet ihr das hören? Werdet ihr so leben?
Werdet ihr sie mit zum Brunnen bringen, damit auch ihr Durst gestillt wird?
Damit wir alle von ihm, aus ihm leben können?
Bei dir ist die Quelle des Lebens.
In deinem Lichte sehen wir das Licht.
Amen.