Das heutige Gespräch führe ich mit Dr. Manfred Glauninger. Er ist Soziolinguist und forscht am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und lehrt am Institut für Germanistik der Universität Wien.
Dieses Gespräch war für mich ganz besonders interessant und auch unterhaltsam, weil wir eine ganze Reihe von Dingen miteinander verbunden haben, die schon in früheren Episoden erwähnt wurden.
Was ist Wissenssoziologie, warum muss Wissenschaft auch als soziales Phänomen verstanden werden? Ist es gefährlich oder notwendig, Wissenschaft zu entmystifizieren und auch hart zu kritisieren? Wirkt Wissenschaft in manchen Bereichen unserer Gesellschaft gar als Ersatzreligion? Was sind die Auswirkungen davon?
Was lernen wir aus den schweren Krisen der letzten 20 Jahren und dem regelmäßigen Versagen von Institutionen über die Rolle der Wissenschaft?
Wie läuft die Produktion von Wissen ab? Welche »magischen« Mechanismen gibt es hier, oder verhält es sich letztlich ähnlich wie die Produktion zahlreicher anderer Güter? Was hat es mit Fehlern und Inkompetenz auf sich? Gibt es unterschiedliche Arten von Fehlern?
Gibt es eine frühe »Prägung« des Nachwuchses in der Wissenschaft, gepaart mit starken Hierarchien und Gerontokratie? Welche Rolle spielt Wettbewerb gegenüber Kooperation in der Wissenschaft? Richten wir die Wissenschaft zu sehr nach marktwirtschaftlichen Prinzipien aus, oder besser gesagt: spielt die Wissenschaft Marktwirtschaft, weil weder die Akteure dafür die Kompetenz haben, noch das Modell passt?
In einigen anderen Folgen wurde das Thema Stagnation schon angesprochen, auch hier stellen wir die Frage: Verdoppelt sich das Wissen oder eher Rauschen regelmäßig? Eine in diesem Zusammenhang für die Gesellschaft sehr relevante Frage ist, welchen Beitrag die immer größere Zahl an wissenschaftlich ausgebildeten Menschen tatsächlich für unsere Gesellschaft leisten? Welche Rolle spielt eben diese wissenschaftliche Ausbildung dabei? Bringt die universitäre Ausbildung tatsächlich signifikante Gewinne für unsere Gesellschaft oder dominiert Signalisierung über Substanz? Der US-amerikanische Ökonom, dessen Name mir in der Episode nicht eingefallen war, ist Bryan Kaplan, der selbst an der George Mason Eliteuniversität forscht und unterrichtet.
»My best guess says signaling accounts for 80% of education’s return”«, Bryan Kaplan
Die Idee der Signalisierung und sollte mit der schon genannten der Frage nach der Qualität der Bildung in unseren Institutionen verknüpft werden, besonders hinsichtlich der nur verbleibenden 20% :
»Teachers’ plea that “we’re mediocre at teaching what we measure, but great at teaching what we don’t measure” is comically convenient.«, Bryan Kaplan
Auch zwischen den Studienrichtungen gibt es Unterschiede. Gilt die Geisteswissenschaft immer häufiger als Notnagel für diejenigen, die schwierigere Studien nicht schaffen? In einer früheren Episode hat bereits Prof. Michael Sommer ähnliche Aussagen getätigt.
“The excentric university professor is a species that is going to be extinct fast. […] The bad currency is driving out the good and in effect where the people who are nimble in the art of writing for grants are displacing the idiosyncratic thinkers who are generally much less nimble at that sort of activity.”, Peter Thiel
Peter Thiel bietet sogar ein Stipendium für diejenigen an, die »Dinge bauen wollen, anstatt im Klassenzimmer zu sitzen.«
Damit stellt sich eine noch grundlegendere Frage: Stellen viele Fächer so etwas wie eine institutionelle Autopoiesis dar, ist es also Wissenschaft als selbstreferenzielle Legitimation ihrer eigenen Institutionen, weil sie keinen direkt erkennbaren Nutzen haben? Aber die Frage kann auch umgedreht werden: Was richtet Institutionalisierung mit Wissenschaft an?
Als »Berufsdenker« sollte auch die Selbstreflexion hoch im Kurs stehen, warum hört man dann so wenig davon in der Öffentlichkeit, im Besonderen nach großen Krisen?
Wie kann das Zusammenspiel zwischen Politik und Wissenschaft beschrieben werden? Kann Wissenschaft tatsächlich nur in Demokratien das volle Potenzial ausspielen?
»Macht ist ein wichtiger Punkt in der Wissenschaft.«
Was können wir hier aus der Vergangenheit lernen, etwa der Wissenschaft während der Nazi-Diktatur in Deutschland und Österreich?
»Lawyers and doctors, all credentialed with university degrees, were substantially overrepresented within the NSDAP, as were university students (then a far narrower section of society than today)«, Niall Ferguson
Benötigen wir überhaupt so viele Akademiker in unserer Gesellschaft? Der deutsche Philosoph Julian Nida-Rümelin spricht vom Akademisierungswahn. Der damalige britische Premierminister Rishi Sunak warnt, dass zu vielen Universitätsstudenten ein falscher Traum verkauft werde. Auch Thomas Sowell kritisiert die eindimensionale Betrachtung des Wissensbegriffs:
»Someone who is considered to be a “knowledgeable” person usually has a special kind of knowledge—perhaps academic or other kinds of knowledge not widely found in the population at large. Someone who has even more knowledge of more mundane things—plumbing, carpentry, or automobile transmissions, for example—is less likely to be called “knowledgeable” by those intellectuals for whom what they don’t know isn’t knowledge. Although the special kind of knowledge associated with intellectuals is usually valued more, and those who have such knowledge are usually accorded more prestige, it is by no means certain that the kind of knowledge mastered by intellectuals is necessarily more consequential in its effects in the real world.«, Thomas Sowell
Absolventen von Universitäten müssen aber auch als Denkkollektiv gesehen werden. Ist dies aber ein Kollektiv, wo Diversität nur auf der Verpackung steht?
Wer ist überhaupt Innovator in unseren modernen Gesellschaften?
»But just as most engineers are not inventors, and most scientists are not researchers, so most science is not research. […] The university was keeping up with a changing technological world rather than creating it.«, David Edgerton
Was hat es also mit Kreativität im Wissenschaftsbetrieb, im Kollektiv zu tun?
Hat zumindest eine kleine Minderheit noch die Chance, sich einen Freiraum zu schaffen, den die Institution (noch) nicht erkannt und durch Prozesse und Regeln ausradiert hat.
Zuletzt kehren wir zur Frage zurück, wie Krise und Expertise zusammenwirken. Was sind die zwei wichtigsten Aussagen, die Sie von jedem Experten hören sollten, aber selten hören? Dr. Glauninger wird es am Ende der Episode enthüllen.
“Evidence based policy has become policy based evidence.”, Mervyn King
Referenzen
Andere Episoden
Episode 101: Live im MQ, Macht und Ohnmacht in der Wissensgesellschaft. Ein Gespräch mit John G. Haas.
Episode 96: Ist der heutigen Welt nur mehr mit Komödie beizukommen? Ein Gespräch mit Vince Ebert
Episode 93: Covid. Die unerklärliche Stille nach dem Sturm. Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann
Episode 92: Wissen und Expertise Teil 2
Episode 80: Wissen, Expertise und Prognose, eine Reflexion Teil 1
Episode 91: Die Heidi-Klum-Universität, ein Gespräch mit Prof. Ehrmann und Prof. Sommer
Episode 85: Naturalismus — was weiß Wissenschaft?
Episode 84: (Epistemische) Krisen? Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann
Episode 83: Robert Merton — Was ist Wissenschaft?
Episode 72: Scheitern an komplexen Problemen? Wissenschaft, Sprache und Gesellschaft — Ein Gespräch mit Jan David Zimmermann
Episode 71: Stagnation oder Fortschritt — eine Reflexion an der Geschichte eines Lebens
Episode 44: Was ist Fortschritt? Ein Gespräch mit Philipp Blom
Episode 41: Intellektuelle Bescheidenheit: Was wir von Bertrand Russel und der Eugenik lernen können
Episode 39: Follow the Science?
Episode 38: Eliten, ein Gespräch mit Prof. Michael Hartmann
Episode 28: Jochen Hörisch: Für eine (denk)anstössige Universität!
Episode 18: Gespräch mit Andreas Windisch: Physik, Fortschritt oder Stagnation
Dr. Manfred Glauninger
Fachliche Referenzen
- John P. A. Ioannidis, Why Most Published Findings Are False (2005)
- Sabine Kleinert, Richard Horton, How should medical science change? Lancet Comment (2014)
- Ludwig Fleck, Genesis and development of a scientific fact. ed. T.J. Trenn and R.K. Merton, foreword by Thomas Kuhn. Chicago : University of Chicago Press, 1979. This is the first English translation of his 1935 book titled Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollectiv. Basel: Schwabe und Co
- Bryan Kaplan, The Case against Education, Princeton University Press (2018)
- Conversation between Peter Thiel und David Graeber, Where did the Future go? (2020)
- Peter Thiel Fellowship
- Niall Ferguson, The Treason of the Intellectuals, The Free Press (2023)
- Niall Ferguson, The Treason of the Intellectuals, Uncommon Knowledge with Peter Robinson (2024)
- Julien Benda, La trahison des clercs (1927)
- Julian Nida Rümelin, Der Akademisierungswahn, Vortrag Körber-Stiftung (2014)
- Thomas Sowell, intellectuals and Society, Basic Books (2010)
- Rishi Sunak, Too Many University Students are Sold a False Dream, Telegraph (2023)
David Edgerton, The Shock Of The Old: Technology and Global History since 1900, Profile Books (2019)
Mervyn King, John Kay, Radical Uncertainty, Bridge Street Press (2021)
Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde